Leseprobe 'Französisch von unten'
»Doktor Janfleur, es geht mir nicht gut.« Juste knetete
nervös seine Hände. Der Mediziner lächelte ihn an.
»Welche Beschwerden haben sie?«
»Ich habe eine Beule.« Juste zeigte auf die Stirn. Doktor Janfleur
rückte seine Brille zurecht, begutachtete die Stirn.
»Wie ist das denn passiert?«
»Es war ein Laster.«
»Sie sind angefahren worden?«
»Ja, vorgestern schon. Und Merlin ist dabei gestorben.«
Doktor Janfleur sichtete den Patienten.
»Es gab Tote?«
»Ja. Einen Kater.«
»Ach so.«
Juste fand, dass ein »Ach, so« Merlin abwertete und dass er das nicht
verdient hatte.
»Es war ein lieber Kater.«
»Ja, das glaube ich. Haben Sie Schmerzen?«
»Ja. Furchtbare Kopfschmerzen.«
»Ich muss Sie zum Röntgen schicken.«
»Merlin war frech und lieb.«
»Ja. Monsieur Simon, das glaube ich gern, aber es war eben doch nur ein
Kater.« Genau da war sie wieder; die Abwertung seines kleinen Freundes.
»Nein«, erwiderte Juste deutlich, »es-war-Merlin. Und-er-war-nicht-
›nur‹ Kater, er war ein besonderer Kater und ich vermisse ihn. Sein Fell
war schwarz-weiß gefleckt und er war ein wenig moppelig.«
Doktor Janfleur holte tief Luft.
»Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass Sie so sehr an dem Kater
hingen. Mein Beileid. Ich muss Sie nach Grenelle zum Röntgen schicken.
Haben Sie sonst noch Beschwerden?«
»Er hatte ein süßes Gesicht und war frech.«
»Monsieur Simon!«
»Thunfisch war sein Leibgericht.«
»Monsieur Simon! Haben Sie sonst noch Probleme? Irgendwelche? Schwindel
oder Sehausfälle?«
»Keine Ausfälle.« Justes Schnurrbart zuckte. »Es ist etwas dazugekommen.
Ich sehe Zahlen.« Nun hatte er die volle Aufmerksamkeit des Doktors.
»Was für Zahlen?«
»Blaue.«
»Und wann sehen Sie diese Zahlen?«
Juste sah den Mediziner an, atmete schwer. Doktor Janfleur schaute
fragend zurück. Juste stand im Rampenlicht, nur zäh flossen Worte.
»Bevor jemand stirbt.«
Juste hielt die Krankschreibung immer noch in der Hand, er stakste wie
ferngesteuert zum Hafen. Kopfmäßig hatte er noch gar nicht erfasst, dass
sein Körper nach einem Grand noir verlangte, die Beine hingegen wussten
es schon. Ohne Begrüßung ging er an Menschen vorbei, die es gewohnt
waren, von ihm begrüßt zu werden. Einige drehten sich um, aber es war
ihm nicht wichtig, die Umgebung verschmolz zu einem belanglosen
Hintergrund von Farben und Tönen. Er sei wohl ein wenig überspannt,
hatte der Doktor zu ihm gesagt. »Überspannt«, hatte er gefragt, »was
genau heißt das?« Geantwortet hatte der Mediziner nicht, nur mit dem
Kopf gewackelt und eine weiße Schachtel mit Tabletten aus dem Schrank
geholt. Ausruhen müsse er und entspannen. Mal wieder ganz er selbst
sein. War er denn nicht er selbst? Bisher glaubte er sicher, Juste Simon
zu sein. Vorgestern, gestern und auch heute. Ärzte waren seltsam. In der
Krankschreibung stünde, hatte der Doktor gesagt, dass er zu jeder
Tageszeit draußen sein dürfe, am besten wären für ihn viele Spaziergänge
bei frischer Luft und nächste Woche solle er wieder vorbeischauen. Wenn
es ihm bis dahin nicht besser ginge, müsse ›ein Fachmann‹ ran. Gab es
einen speziellen Beulenfachmann? Zum Röntgen nach Grenelle sollte er
nicht mehr fahren. Der Arzt hatte ihm den Rücken getätschelt und
beteuert, dass alles gut werden würde, wenn er nur ein wenig Geduld
mitbrächte. Dann hatte er ihn in Richtung Ausgang geschoben. Alles gut?
Wie sollte er erreichen, dass alles gut würde, wenn eigentlich alles
schlecht war und er noch nicht einmal wusste, aus welchem Grund alles
schlecht war? Warum sah er Dinge, die Andere nicht sehen konnten? Man
sollte nicht zu viele Geheimnisse kennen. Aber das hatte er sich nicht
ausgesucht. Und wie sollte trotzdem alles gut werden?
Vor dem Bistro blieb der Körper von Juste Simon stehen. Alles schien wie
immer. Mémé legte konzentriert ihre Karten und Blanche wischte die
Theke. Es war alles so, wie er es mochte. Ein gemütliches Bistro mit
einer netten Wirtin und einer Großmutter, die jedermanns Großmutter war.
Gläser, Flaschen, Mahagonitheke. Alles normal. Nichts war überspannt.
Justes Kopf, der sich am Gespräch mit dem Arzt festgenagt hatte,
beruhigte sich. Juste steckte die Krankschreibung in die Hemdtasche.
»Ich bin Juste Simon«, flüsterte der Buchhalter. »Das war ich gestern,
bin es heute und das werde ich auch morgen sein!« Dann betrat er das
Bistro ...
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